Ein aktuelles Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 21.08.2024 unterstellt unserem Gehirn einen systematischen Verfallsprozess, der nach fünf Monaten das Schattenreich des Vergessenwerdens über unsere Erinnerung spannt. Wir sind allerdings überzeugt, dass das Erinnerungsvermögen von Bausachverständigen nicht das Schicksal jener voluminösen Perserkatzen teilt, die – einmal unters Wasser gehalten – an magere Ratten oder gerupfte Hühner erinnern.
I. Aus großer Kraft folgt große Verantwortung
Es gibt Berufe, da erwarten wir eine gewisse Perfektion. Chefarzt etwa. Gesetzgeber und Bestellungskörperschaften verlangen von Bausachverständigen eine besondere Sachkunde. Jedes einzelne Fenster, jede Fliese, die Fuge, das winzige Fitting und das vollständig verflochtene Formgefüge beziehen sich in einvernehmlichem Einklang aufeinander, wie man beim Erklingen einer einzigen Musikzeile in ihr das ganze Stück erkennt und in einem die vollständige Vorstellung entsteht.
Von Sachverständigen werden aber nicht nur technische, sondern auch vertiefte Rechtskenntnisse erwartet, ohne die bei gerichtsgutachterlicher Tätigkeit Honorarverlust droht. § 8a Abs. 1 JVEG verpflichtet die Sachverständigen, mit Erhalt des Gutachtenauftrages mögliche Befangenheitsgründe zu prüfen. § 8a Abs. 2 JVEG bestraft gleich diverse Anzeigepflichtverletzungen mit dem Verlust der Vergütung.
Nach § 411 Abs. 1 ZPO muss die vom Gericht gesetzte Bearbeitungsfrist zur Vorlage des schriftlichen Gutachtens penibel beachtet werden. Und am Ende darf auch § 2 Abs. 1 JVEG nicht übersehen werden: drei Monate nach Abgabe des Gutachtens zerfällt der Honoraranspruch zu Staub, Schuppen und Schwaden.
II. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.08.2024 – L 10 KO 2110/243
Nun wird es juristisch, also schwierig. Das LSG Baden-Württemberg hat der Palette an Pflichten und Fristen eine weitere – von uns als »Gutachtenvorlagefrist« benannte – Frist hinzugefügt. In einem Urteil vom 21.08.2024 heißt es auszugsweise:
»... das Gutachten ist schon deshalb ... nicht ... verwertbar, weil zwischen der Untersuchung des Klägers ... und der Vorlage des schriftlichen Gutachtens ... ein Zeitraum von mehr als sechs Monaten verstrichen ist. Bei einem derart langen Zeitraum ist – wie beim Richter, der Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten ... nach der Urteilsverkündung schriftlich niedergelegt hat (s. dazu ...) ... typisierend davon auszugehen, dass die Erinnerung des Sachverständigen an die Exploration und den persönlichen Eindruck vom Probanden in Ansehung der bei der Begutachtung gewonnenen Untersuchungsergebnisse ... mit der Zeit naturgemäß verblassen muss, v.a. bei einem Sachverständigen, der eine Vielzahl von Gutachten erstattet und es allein deswegen auch mit einer Vielzahl von Probanden zu tun hat (vgl. ...) ... Damit hat der Sachverständige gegen seine Verpflichtung zur ordnungsgemäßen Erstellung des Gutachtens verstoßen ...«
III. Modell für Bausachverständige?
Der hohe Anteil fachlicher Qualifikation in der Justiz verhindert leider nicht, dass deren Wirken gelegentlich an evangelikale Prediger mit direkter Standleitung nach ganz oben erinnert. So einfach kann es gehen, liebe Gläubige, mit der Heiligkeit. Denn mit dieser Entscheidung eines Sozialgerichtes haben wir ungeplant und ungewollt die rechtlichen Reliquien für einen Ritt über das medizinische Ressort hinaus beisammen und hinein in den Bausektor:
Ulrich schließt aus dem Judikat des LSG, es sei nicht zwingend, aber jedenfalls plausibel, dass auch im Zivil(bau)prozess zwischen einem Ortstermin und der nachfolgenden Gutachtenvorlage nicht mehr als fünf Monate liegen dürfen. Hierzulande verdichten sich höhere Steuern, zusätzliche Bürokratie, expandierende Sozialleistungen und die staatlich gewollte Verteuerung von Energie. Da ist der Wunsch nach einem Bau-Turbo – so viel zu Ihrer Beruhigung – ziemlich unvermeidlich. Aber da nähern wir uns fast zwangsläufig der Frage: Müssen auch Bausachverständigengutachten spätestens fünf Monate nach dem Ortstermin bei Gericht eingehen?
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