BauSV 1/2024


Bautechnik

Abb. 3: Realer Riss mit Rissspalt und Auflockerungszone sowie den gebräuchlichsten Rissbreiten

Heinz Meichsner


Die rechnerische und die natürliche Rissbreite in Stahlbetonbauteilen


1 Einführung

Als die Rissbreitenbegrenzung im Stahlbetonbau zu einem Pflichtnachweis in jeder statischen Berechnung erhoben wurde (1963), wurden in der Norm rechnerische Rissbreiten von 0,3 mm oder 0,4 mm als Nachweisgrenze gefordert. Heute ist die Rissbreitenbegrenzung fester Bestandteil der Tragwerksplanung. Das Rissbreitenberechnungsverfahren des EC2 gilt in den westeuropäischen Ländern und ist zur Normalität des Tragwerkplaners geworden. Der EC2 benutzt einen künstlichen Riss, den es am Bauwerk nicht gibt, und der eine künstliche rechnerische Rissbreite wk besitzt.

Für diesen Rechenwert der Rissbreite wurde ein mathematisches Modell entwickelt, das es uns gestattet, eine Bewehrung herzuleiten, die bestimmte Forderungen erfüllt. Das betrifft in erster Linie die Rissbreite. Je nach den Anforderungen an sie müsste die Rissbreitenberechnung modifiziert werden. Beispielsweise wäre für die Dauerhaftigkeit der Bewehrung ein Einzelwert am Kreuzungspunkt von Bewehrung und Riss notwendig, bei Fließvorgängen durch einen Trennriss und Selbstheilungserscheinungen ein Mittelwert der Rissbreite. Weitere Rissbreiten wären für andere Zwecke notwendig [1].

Die heute geübte Praxis, die rechnerische Rissbreite der Norm wk immer dann anzuwenden, wenn in einer Berechnung eine rechnerische Rissbreite notwendig ist, kann nur in den Fällen richtig sein, in denen es um die Gefährdung der Dauerhaftigkeit der Bewehrung geht. Für alle anderen notwendigen rechnerischen Rissbreiten gibt es gegenwärtig noch keine Berechnungsmethode.

Die rechnerische Rissbreite nach dem EC2 ist als die größte rechnerische (fiktive) Rissbreite ein ausgezeichneter Rissbreitenwert, den es am Bauteil mit Ausnahme sehr großer Bauteile nur einmal gibt. Werden gemessene Korrosionserscheinungen in Abhängigkeit von der Rissbreite dargestellt (Abb. 1, Abb. 2), gibt es ein ungeordnetes Bild, in dem keine Gesetzmäßigkeit zu erkennen ist. Trotzdem hat man im EC2 in Tabelle 1 zulässige Werte für wk abgestuft. Damit sollte der großen Streubreite Rechnung getragen und eine zusätzliche Sicherheit bei schärferen Anforderungen eingebaut werden [2].

Es gibt keine Norm, die zulässige Rissbreiten für reale Bauwerksrisse enthält. Dass das auch kaum möglich ist, zeigen Abb. 1 und 2. Mit dem Abrostungsgrad und der Narbentiefe wurden Maße für die Korrosionswirkung an der Bewehrung gefunden, die eine Quantifizierung der Korrosionswirkung gestatten.

Die beiden Diagramme zeigen, dass es bei langjähriger Nutzung unter durchschnittlichen atmosphärischen Einwirkungen bis zur Rissbreite von 0,5 mm keine systematischen Unterschiede zwischen der Korrosionsschädigung bei unterschiedlichen Rissbreiten gibt. Die Korrosionsgefahr ist durch Karbonatisierung im ganzen Bereich von 0 bis 0,5 mm ungefähr gleich groß. Deshalb ist auch für reale Risse keine differenzierte Abstufung zulässiger realer Rissbreiten gerechtfertigt. Bei Rechenwerten der Rissbreite ist das anders (Tabelle 1). Bei ihnen soll durch die Wahl einer strengeren Expositionsklasse die Wahrscheinlichkeit verringert werden, dass vereinzelte Überschreitungen der Normwerte wmax auftreten.


2 Der reale Riss am Bauwerk und seine Idealisierung zum Rechenwert der Rissbreite

2.1 Der Begriff »Rissbreite« ist im Stahlbetonbau nicht definiert, er ist mehrdeutig

Die »Rissbreite« spielt in der Theorie des Stahlbetons heute eine wichtige Rolle. In der DIN EN 1992-1-1/NA kommen dieser Begriff oder Worte mit dem Wortstamm »riss« auf rd. 350 Seiten mehr als einhundertmal vor. Leider ist er nicht präzise definiert und wird deshalb mehrdeutig benutzt. Beispielsweise beginnt der Abschnitt 7.3 »Begrenzung der Rissbreiten« dieser Norm folgendermaßen:

»7.3.1 Allgemeines

(1) P Die Rissbreite ist so zu begrenzen, dass die ordnungsgemäße Nutzung des Tragwerks, sein Erscheinungsbild und die Dauerhaftigkeit nicht beeinträchtigt werden.«

Was ist eigentlich die Rissbreite? Es gibt keinen Stahlbetonriss, der nur eine Rissbreite hat. Beispielsweise kann eine Rissbreite als Mittelwert über die Risslänge gemessen werden, aber auch als einzelner Größtwert. Das ergibt bereits zwei Rissbreiten für den gleichen Riss. Welche ist denn nun in der Norm gemeint? Weitere Beispiele sind naheliegend.

Das bedeutet, dass mehreren realen Rissbreiten am realen Bauwerksriss nur ein Rechenwert der Rissbreite gegenübersteht. Über seine Geometrie gibt es nur vage, subjektive oder gar keine Vorstellungen. Das ist auch nicht notwendig, weil als Berechnungsergebnis nur die Rissbreite oder ihr Rechenwert interessiert. Einen Messwert oder eine Regel, wie er zu messen ist, gibt es dafür nicht.

Dieser Rechenwert wird in der Planungs- und Baupraxis mangels einer Alternative für andere Aufgaben unkritisch benutzt, bei denen eine rechnerische Rissbreite benötigt wird. So hat sich in der WU-Richtlinie [5] ein Fehler eingeschlichen, durch den das Selbstheilungskriterium (Tabelle 2 der WU-Richtlinie) etwas großzügiger geworden ist, als es physikalisch begründbar ist.

So sind in [6], wo die Versuche zur empirischen Ableitung des Selbstheilungskriteriums beschrieben sind, Mittelwerte der Rissbreite aus jeweils 12 Einzelmesswerten je Versuch verwendet worden. Richtig wären statt der Mittelwerte statistisch begründete Werte gewesen, die kleiner sind. Die Selbstheilungswahrscheinlichkeit eines Risses unter vergleichbaren Bedingungen wäre dadurch für jede Rissbreite gegenüber der gültigen WU-Richtlinie, Tabelle 2, gesunken.


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