
Vom Gutachter, der keine Gutachten mehr schreiben wollte
Es war einmal ein Gutachter, der fleißig, strebsam, stets bemüht seiner Arbeit nachging. Die Kunde von seinem Fleiß blieb auch den Gerichten im Lande nicht verborgen, sodass sie den Gutachter rege für ihre Schriftdienste in Anspruch nahmen.
Wie es übliche Sitte im Land ist, konnte sich der Gutachter dieser Gerichtsaufträge nicht verwehren, sondern war zu ihrer Ableistung gezwungen. Einzig die Zeit zur Abarbeitung dieser Aufträge konnte noch gewissermaßen verhandelt werden. Auch der Dukatenlohn pro Stunde war meist nicht in Fels gemeißelt, sondern oblag, so die Gunst der Partizipanten es wollte, einem Spielraum.
So verging Stunde um Stunde, Tag um Tag, Monat um Monat, Sommer wechselte auf Winter und wieder auf Sommer, doch die Arbeit wurde nicht weniger, egal wie strebsam der Gutachter sein Tagewerk verfolgte.
Der Gutachter sah, dass er einer Knechtschaft gleich gezwungen war, viele Stunden wertvoller Lebenszeit in einer dunklen Kammer mit dem mühseligen Schreiben umfangreicher Schriftwerke, im allgemeinen Sprachduktus »Gutachten« genannt, verbringen musste. Zwar wurde diese Arbeit gut entlohnt, aber Dukaten sind nicht alles, erst recht können sie die eigene Lebenszeit ja nicht verlängern!
Zugleich war ihm insgeheim bewusst, dass die mühselig erarbeiteten Werke im Prinzip so gar nicht gebraucht wurden, da den Partizipanten der Gerichtsvorhaben eigentlich nur wichtig war zu wissen, wer was verbrochen hat und wer wem was schuldet (selbstredend nach bautechnischer und nicht juristischer Bewertung). Die Partizipanten zahlten an die Gerichte also viel Geld, um hinterher doch nur in wenigen Sätzen zu hören, was der Gutachter zuvor in einem umfangreichen Buchwerk hervorbringen musste.
So war es einerseits die reine Zeitnot, die umfangreichen Schriftwerke kaum noch in der gerichtsgegebenen Zeit bewältigen zu können, wie auch der gesunde Menschenverstand, Sachverhalte doch auf einen kurzen Nenner zusammenzufassen und somit allen Beteiligten wertvolle Lebenszeit und Dukaten einsparen zu können, was den Gerichtsgutachter auf eine neue Idee brachte: Was wäre, wenn man dem Gericht kein umfangreiches Schriftwerk lieferte, sondern auf wenige Zeilen zusammengefasst, direkt das Ergebnis präsentierte? Würde eine derartige Rebellion gegen den vom Gericht klar formulierten Auftrag, ein umfangreiches Schriftwerk hervorzubringen, nur auf taube Ohren stoßen oder gar schlimmer, den Gutachter auf ewig in Ungnade fallen lassen?
Versuch macht zu allen Zeiten bekanntlich klug, also wagte der Gutachter ein Exempel, verfasste an das Gericht ein kurzes Schreiben und offenbarte in diesem die Lösung für die an ihn gestellten Streitfragen. Auf einem Umfang von wenigen Seiten, in der Zahl zwischen 3 bis 4, fasste der Gutachter also zusammen, dass es eine Ortskunde gab und wie sich die Streitfragen ihm darstellten, wer verantwortlich war, und wie eine Lösung der Fehde ausgehen könnte. Vor dem Abschiedsgruß erlaubte sich der Gutachter den Hinweis, dass eine umfangreiche Gutachtenerstattung selbstverständlich noch erfolgen könne, diese aber nicht wirtschaftlich wäre und erst recht auch keine neuen Ergebnisse hervorbringen würde.
Es vergingen Tag um Tag, Woche um Woche, als plötzlich das Gericht die Kunde verbreitete, dass die Partizipanten nun eine Einigung anstrebten. Der Gutachter hatte letztlich also, wie ihm aufgetragen, zur Lösung der Fehde beigetragen, jedoch auf eine unkonventionelle und verkürzte Art und Weise. Fortan beschloss der Gutachter, wo immer möglich, diese neumodische Vorgehensweise darzubieten.
Wer von Ihnen möchte nicht gerne wie ich aufbegehren gegen die Flut an schier nicht mehr zu bewältigenden Gerichtsaufträgen? Die Idee, das Schreiben von umfangreichen und aufwendigen Gerichtsgutachten zu umgehen und meine Arbeitsbelastung dadurch nennenswert zu reduzieren war es, die mich einen neuen Weg im gerichtlichen Sachverständigenwesen beschreiten ließ.
Wie oben prosaisch dargestellt, kombiniere ich dazu eine Sachstandsinformation mit einer Weisungsbitte. Dem geht selbstredend ein oder falls nötig, mehrere Ortstermin(e) voraus, um die Streitfragen sachkundig in Augenschein zu nehmen. Hier bin ich bestrebt, die Ortstermine möglichst zeitnah nach Eingang des Beweisbeschlusses anzuberaumen. Bereits zu Beginn dieses Ortstermins weise ich die Prozessbeteiligten inzwischen darauf hin, dass die Sache geeignet sein wird, den Sachverhalt nebst Lösungen in einem kurzen Anschreiben zusammenzufassen, welches recht zeitnah nach dem Ortstermin erfolgen wird. Zudem erfolgt der Hinweis, dass das so produzierte Ergebnis wie in Stein gemeißelt steht, und auch, sofern dennoch gewünscht, das aufwendige Schreiben von Gutachten mit Zitaten aus vielen Normen oder der Fachliteratur keine Veränderung am eigentlichen Ergebnis mehr bieten wird.
Es liegt also im gesunden Menschenverstand, das verkürzt dargestellte Ergebnis zu akzeptieren oder viel Zeit vergehen zu lassen, weitere Kostenvorschüsse an das Gericht einzuzahlen, um dann nach rund einem Jahr auf vielen dutzend Seiten im Endeffekt das Gleiche noch mal ausführlich zu lesen. Allein für die Aufarbeitung des Ortstermins und die Beschreibung der zahlreichen Bilder vergehen im Büro bekanntermaßen viele unnötige Stunden.
Im Termin stellt sich dar, ob von den Parteien weitere Unterlagen benötigt werden, die im Nachgang an mich verteilt werden sollen. Sobald mir alle relevanten Beurteilungskriterien, neben dem Akteninhalt und dem Ortstermin, vorliegen, nehme ich mir etwas Zeit und mache mir Gedanken über den Sachverhalt. Dann verfasse ich ein Anschreiben an das Gericht, in dem ich die wesentlichen Punkte kurz zusammenfasse.
Um es klar auszudrücken: der Untersuchungsaufwand, den ich in der jeweiligen Fragestellung am streitgegenständlichen Objekt betreibe, ist exakt der gleiche. Lediglich die schriftliche Aufarbeitung verkürze ich dabei maximal.
Derartige Schreiben enden bei mir immer mit etwa folgendem Passus, natürlich angepasst auf die jeweilige Situation, systematisch jedoch wie folgt: »Das Beweisverfahren dürfte demnach nach bautechnischem Ermessen für die Klägerseite nicht erfolgreich abschließen.«
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